Am Fri, 16 Dec 2022 12:25:54 -0800 (PST) schrieb Robert Niestroj-Pahl
Post by Robert Niestroj-PahlIch weiß nicht genau ob es das Thema hier schon mal gab,
aber ich habe letztens bei Sheldon Brown etwas gelesen, was
mich ziemlich stutzig gemacht hat. SB hat behauptet, dass
das Aufsteigen beim Anfahren (beim Aufsteigen von links das
linke Bein aufs Pedal, abstoßen und beim Rollen das rechte
Bein hinten über den Sattel heben) schlecht für die Felgen
sein soll, da sie starken seitlichen Kräften ausgesetzt
werden. Ich glaube eher, SB wollte seine Methode des
Aufsteigens (im Stand das Bein rüberheben, nciht während des
Rollens) bevorzugen. Denn was bitte sollen denn für extreme
Kräfte auf die Felgen kommen? Beim Wiegetritt passiert doch
Ähnliches... ich kenne Jemanden, der schon seit 50 Jahren so
auf sein Fahrrad aufsteigt und noch nie beschädigte Felgen
hatte. Ich auch noch nie...
Ich mutmaße, es geht um diesen Text:
<https://sheldonbrown.com/starting.html>
Starting and Stopping
by Sheldon "Fast Off The Line" Brown
and John "Stepping Forward" Allen
Sowohl die Materialsammlungen von Sheldon Brown als auch die von John
Allen (und John Forester) sind, soweit es um die technischen Details des
Fahrrades und des Radfahrens geht, zwar ein interessanter Fundus, aber
mit Vorsicht zu genießen, weil da neben unbestreitbaren Fakten auch
viele Merkwürdigkeiten und Absonderlichkeiten zu finden sind, die man
mit persönlichen Vorlieben oder örtlichen (nationalen oder
geografischen) Eigentümlichkeiten erklären kann. Als Bibel taugen diese
Texte generell nicht und schon gar nicht als Rezept für diejenigen, die
Radfahren können.
Die vorgeschlagene Methode ist das, was man jemandem empfiehlt, der das
Bein nur noch mit Mühe über das Oberrohr bekommt und die Sache Schritt
für Schritt angehen muss: Rad gerade hinstellen, sich neben das Rad
stellen, das radseitige Bein irgendwie auf die andere Seite
praktizieren, dann das schwäche Bein passend ausgerichtete Pedal stellen
und dann dies sowohl als Aufsteigehilfe verwenden, um in den Sattel zu
kommen als auch damit den ersten Antriebsimpuls zu bekommen.
Post by Robert Niestroj-PahlSein anderes Argument war, dass bei dieser Methode sehr
langsam anfährt und etwas schwankt, was im Straßenverkehr
gefährlich sein kann. Da gebe ich ihm recht, aber bei der
Sache mit den Felgen...
Wer von Euch steigt im Rollen und wer im Stand auf?
Falsche Frage, dann das läßt sich nur mit "weder/noch" oder "es kommt
darauf an" beantworten. Was mich betrifft, hängt der genaue Ablauf
sowohl vom Fahrrad als auch von der konkreten Situation ab. Wenn ich in
einem 12%-Anstieg anhalten musste und mit dem Rennrad weiterfahren
möchte, läuft das anders ab als wenn ich mit dem Hollandrad am
Straßenrand stehe.
Beim Lesen des Textes von John Allen und beim Anschauen dieses Videos
<http://vimeo.com/112725801> schüttelt es mich förmlich. Das sind
Instruktionen für Leute, die fünfzig geworden sind, ohne in den
Jahrzehnten zuvor nennenswert oder überhaupt Rad gefahren zu sein und
die schon gar nicht als Kind irgendeine Geläufigkeit im Umgang mit dem
Rad erworben haben. Meine Kinder hätten sich schon im Grundschulalter
über eine solche Anleitung totgelacht.
Bereits der Originaltext von Sheldon Brown
<https://web.archive.org/web/19990225071622/https://sheldonbrown.com/starting.html
qualifiziert einige Techniken paschal als falsch ("Some Wrong Ways:"),
die man so oder in Varianten immer wieder nutzt, wenn man radfahren
kann. Was da als "Cowboy Mount", "Shuffle Mount" und "Flying Leap "
diffamiert wird, ähnelt verdammt der Technik, die ich ohne groß drüber
nachdenken zu müssen verwende, wenn ich mit dem Rennrad losfahre: ich
klinke in einer flüssigen Bewegung mit dem linken Fuß ein, schwinge
schon in Bewegung das Bein über den Sattel und treffe dann meist mit dem
rechten Fuß bereits das rechte Pedal einklinkend und beschleunige dann
richtig. Und wenn nicht, reichen die vier Punkte (linker Fuß, linke und
rechte Hand sowie Sattel) völlig aus, mit dem rechten Fuß in aller Ruhe
spätestens bei der nächsten Umdrehung richtig einzuklinken. Manchmal
mache ich es auch so wie hier
zu sehen: das entspricht
dem "flying leap", nur hat das mit "auf den Sattel springen" nichts zu
tun. Da klinkt man erst den rechten und dann erst den linken Fuß ein. Es
hilft enorm, einen passenden Gang eingelegt zu haben.
Anspruchsvoll wird es eigentlich nur, wenn man mit einem eher
unbrauchbaren Rad in einer engen Straße mit Autoverkehr losfahren
möchte. Mein aktuelles Hollandrad liefert eine solche Lage: die
Geometrie ist grottig, sie macht sowohl das Steuern bei sehr niedrigem
Tempo riskant als auch das (An-)Fahren im Stehen und der Rücktritt ist
auch eher hinderlich. Da muss man dann halt auf eine etwas größere
Lücke warten.
Das man beim Aufsteigen und Losfahren den Rahmen oder die Felgen
zertreten wird - "considerable lateral stress on the frame and the
wheels" und "this poor mounting technique is very hard on your wheels."
- halte ich für lächerlich. Mag sein, dass man es _kann_, wenn man es
als 200kg-Fettkloss bewußt darauf anlegt. So, wie man es
vernünftigerweise macht, belastet das die Räder und den Rahmen weniger
als es der Wiegetritt eines kräftigen Fahrers tut, oder wie es bei
plötzlichen Ausweichbewegungen unvermeidlich ist.
Was das "Wackeln" angeht, "dass bei dieser Methode sehr
langsam anfährt und etwas schwankt", die Logik dahinter erschließt sich
mir nicht. Ich wackle ab etwa einem Tempo von 6-8 km/h nicht mehr und
verkürze die potentielle Wackelphase durch flüssiges Anfahren, bei dem
das Rad beim Aufsteigen schon in Bewegung ist.
Im Endeffekt ist das beste Rezept gegen Probleme dieser Art: "genügend
Kraft in den Beinen". Und die erwirbt man vornehmlich dadurch, dass man
die Muskeln, die man in den Beinen hat, häufig genug bis an ihre Grenzen
bringt, also bis zur Ermüdung benutzt. Je früher man damit anfängt, um
so weniger ist das mit Unpässlichkeiten verbunden.
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Wir danken für die Beachtung aller Sicherheitsbestimmungen