Am Wed, 20 Apr 2022 19:35:23 +0200 schrieb "Chr. Maercker"
Post by Chr. MaerckerPost by Arno Welzel"Propaganda" würde ich das Interview mit Andrés Martin-Birner, dem Chef
von Bike24, aber nicht nennen. Eher eine Art Situationsbeschreibung, wie
der Handel es aktuell erlebt.
Die Menschen kaufen halt mittlerweile viele E-Bikes, weil sie es so wollen.
Nachdem ich auf mehreren Messen erlebt habe, was Fahrrad(?)händler dort
seit Jahren präsentieren und bewerben, neige ich stark zu der Annahme,
die Menschen "wollen" E-Räder, weil sie in der Werbung kaum noch
Fahrräder sehen. --
Und sie "wollen" E-Räder, weil es längst schwierig und/oder teuer
geworden ist, etwas anderes zu wollen, etwa ein normales Fahrrad zu
kaufen, ohne gebraucht zu kaufen, unangemessen viel Geld auszugeben oder
sich auf einige wenige Modelle zu beschränken. Was mir an anderer
Stelle (in der Diskussion über das Für und Wider von Scheibenbremsen)
roztfrech vorgehalten wurde: "irgendwann wirst du gar nichts anderes
mehr bekommen", ist z.T. schon Realität.
Im Verlaufe der Pandemie haben sich auch meine Kinder nach neuen Rädern
umgeschaut, eine Freundin bekam vom Arbeitsweg für den Arbeitsweg ein
Fahrrad spendiert (geliehen, sie musste es aber selber besorgen). Mein
Ältester meinte, an der Länge der Schlangen vor dem Laden und am Tempo
der Bedienung hat man leicht erkennen können, wo die Prioritäten liegen
bzw. wo der Verdienst steckt. Sprich: man verkauft keine Fahrrad, wenn
man auch ein "Fahrrad" verkaufen kann, das teurer ist und ein
kontinuierliches Anschlußgeschäft verspricht.
Ausserdem investiert man heftig in Meinungsmache. Auch hier hat der
Fachhandel offenbar von den Autoherstellern gelernt. Die hinteren
Artikel im Spiegel unterscheiden sich von dem, was man in
Bäckerzeitungen, Anzeigenblättern und den verbliebenen regionalen
Käseblättchen liest, i.W. nur dadurch, das der Spiegel einen Redakteur
bezahlen kann (oder hoffnungsvollen Praktikanten nicht bezahlen muss),
die eine Pressemitteilung oder ähnliche Vorlage in einen eigenen Text
mit identischem Inhalt und Tenor umformulieren können. Das hält die
Werbekunden bei Laune.
Auch anderen ist schon aufgefallen, dass die Zielgruppe für E-Mofas
längst nicht mehr alte oder behinderte Menschen sind (wenn das überhaupt
jemals der Fall war), oder gehfaule Erwachsene. Nun sind Kinder ganz
explizit die Zielgruppe. Ein krasses Beispiel dafür ist mir letztes Jahr
in die Hände gefallen, die "Titelgeschichte" im einer Ausgabe des
"Magazin für Mensch und Rad" des VSF.
Jemand hatte an anderer Stelle gefragt
| Wenn ich sehe, dass selbst die jüngsten Radler schon
| per E-Bike unterwegs sind, macht mich das richtig traurig.
Dazu schrieb ich folgendes.
Ich habe in Diskussionen seinerzeit mitverfolgt, wie Pedelec anfänglich
mit "ist ja nur Tretunterstützung bis maximal 100 % der Eigenleistung
und die wird bis 25 km/h auf 0 % abgeregelt" vermarktet wurden, sowie
viral mit Sprüchen a la "Hast Du denn überhaupt kein Verständnis dafür,
dass alte, schwache und kranke Menschen ein wenig Anschub brauchen??".
Inzwischen ist man da völlig ungeniert.
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>
"VSF bewirbt E-Bikes für Kinder"
Das Blättchen des VSF
<https://de.wikipedia.org/wiki/Verbund_Service_und_Fahrrad> ist mir bei
unserem kürzlichen Heimweg vom Impfen bei einem Fahrradhändler in die
Hände gefallen, da lag aussen ein ganzer Stapel davon im Prospektkasten.
Wer nun glaubt, dass sich hinter dem Spruch "Pedelec für Kinder ist der
neue Hype: Spassmacher, Motivatoren - und umstritten" auf dem Deckblatt
so etwas wie verhaltene Kritik im Artikel verbirgt - der irrt. Das ist
ein reiner Marketing- und Jubelartikel, der genau diesen Hype durch
ausgiebige Schilderung von Vorteilen anzuheizen versucht.
- "NICHT ALS KIND SCHON AN DIE FAULHEIT GEWÖHNEN", SO EIN ARGUMENT
DAGEGEN. ES GIBT ABER AUCH GUTE GRÜNDE DAFÜR.
steht da in dicken Lettern am Anfang eines vierseitigen Artikels, in dem
so Sätze stehen wie ""Dank E-Bikes können Familien mit kleinen Kindern
auch längere Touren und auch über hügeliges Terrain unternehmen, was bis
zum Alter von etwa 14 Jahren motorlos oft nicht geht."
Mumpitz. Ein E-Bike bietet einem untrainierten schweren Erwachsenen die
Antriebsleistung eines Radsportprofis, für Kinder ist der Antrieb erst
recht überdimensioniert. Wer Kinder mit faktischen E-Mofas, bei denen
schon Motor und Akku so schwer sind wie sonst ein komplettes Kinderrad,
wie im Artikel ausgiebig bebildert, auf steile Geröllhänge schickt, hat
einen in der Klatsche, aber so was von. Mit normal trainierten Eltern
können Kinder durchaus mithalten, sowohl in der Ebene, als auch in
hügeligem Gelände. Das ist nämlich nicht eine Frage der Leistung,
sondern der dem Terrain angepasssten Schaltung. Rechenbeispiel:
normalgewichtige Zehnjährige wiegen um die dreissig Kilo und erreichen
auf dem Ergometer über 100 W. Mit einem geeigneten (!) Fahrrad kommt
man damit so ziemlich jeden Hügel hoch. Jedenfalls nicht schlechter als
Erwachsene, die nicht gerade Rennsport betreiben wollen. Und die werden
ihre Kinder ganz gewiss nicht auf E-Bikes setzen.
Es geht also auch ohne Motor, und das sogar schon vor der Grundschule.
Das folgende Foto habe ich 1992 auf einem Radurlaub im Emsland nach
einer 50km-Runde geknipst. Wir waren schon recht groggy (kaum
Steigungen, aber Gegenwind und z.T. Sandwege), die Jungs ließen es sich
aber nicht nehmen, in einem nahegelegenen Schwimmbad ausgiebig im Wasser
herumzutollen.
<https://www.mystrobl.de/Plone/radfahren/fahrten/urlaub/emsland1992.jpg/image>
"Emsland 1992: Nach 50 Kilometern ein kühles Bad"
Vorsorglich: die Helme sind schon am Ende dieses Urlaubs auf den Müll
gewandert, aus Gründen.
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Werbung wirkt, vor allem, wenn sie gut versteckt ist und Abhängigkeiten
bedient (und dann auch verursacht), welche die angesprochenen Opfer
nicht wahrhaben wollen. Es ist verblüffend, wenn man individuell
geäußerte Rechtfertigungslyrik hört oder liest (auch hier!), die man
Monate und bisweilen Jahre zuvor schon in solchen Elaboraten bis in die
Formulierungen hinein gelesen hat.
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Wir danken für die Beachtung aller Sicherheitsbestimmungen