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RADZEIT 2/2004, Seite 12:
"Fehlurteil in Prenzlau
Tödliche Fahrradunfälle werden nicht nur in Brandenburg selten
verhandelt. Auch im vorliegenden Fall hatte der Staatsanwalt das
Verfahren bereits eingestellt. Dabei zeigt der Unfallhergang
ein typisches Fehlverhalten von Autofahrern gegenüber Radfahrern: Am 30.
Oktober 2002 gegen 7.00 Uhr befuhr Rüdiger J. (45) mit seinem Fahrrad
die Friedrich-Engels-Straße in Templin. Hinter einer Kreuzung überholte
ihn der Lkw-Fahrer Karl-Heinz W. (50) auf der nur 2,80 Meter breiten
Fahrbahn, drückte ihn gegen eine Mauer und verletzte ihn im „toten
Winkel“ tödlich. In der Verhandlung beteuerte der Anklagte, den
Radfahrer nicht gesehen zu haben, obwohl er ihn zuvor überholt hatte.
Der Richter wird ihm glauben und dem Getöteten grobe Fahrlässigkeit
vorwerfen – ein Fehlurteil.
Eigentlich müssten in Prenzlau wohl drei Angeklagte auf ihr Urteil
warten: Neben dem angeklagten Lkw-Fahrer auch das Straßenbauamt
Templin sowie das Bundesverkehrsministerium. Letzteres hat die technisch
mögliche Beseitigung des „toten Winkels“ an Lkw jahrzehntelang
hinausgeschoben und damit tausende Verkehrsunfälle wie den jetzt
verhandelten stillschweigend geduldet. Auch das Straßenbauamt Templin
lässt im Anschluss an einen zunächst gut einsehbaren Radstreifen
auf der Fahrbahn der Friedrich-Engels-Straße einen Radweg bauen, der
nicht der StVO entspricht.Hinter der Kreuzung Robert-Koch-
Straße geht es für Radfahrer mit einer scharfen Rechtskurve über einen
drei Zentimeter hohen Bordstein, zwischen zwei Bäumen und durch eine
Fußgängeraufstellfläche auf den Bürgersteig. Der Radweg ist 15 Meter
kurz und benutzungspflichtig, um gleich anschließend wieder auf die
Fahrbahn zu führen. Da die Radfahrerfurt über die Kreuzung zunächst
direkt auf die Fahrbahn zeigt und das Radwegschild hinter einem Baum
verschwindet, ist der Radweg nicht sofort erkennbar. Ein Zeuge des
Unfalls wird später im Prozess aussagen, dass die Mehrzahl der Radfahrer
hier auf der Fahrbahn fährt und die Templiner dies wissen. Nur ältere
Radfahrer fahren auf dem Bürgersteig-Radweg. Der Angeklagte und das
Opfer stammen beide aus Templin.
Die einzige direkte Zeugin des Unfallhergangs saß auf dem Beifahrersitz
eines nachfolgenden Pkw. Auf zweimalige Nachfrage des Richters sagt sie
im Prozess, der Lkw-Fahrer sei mit seinem Fahrzeug am Ende der Mauer
nach rechts gezogen, wie nach einem Überholvorgang. Dafür spricht, dass
die Fahrbahn lediglich 2,80 Meter und der Lkw 2,50 Meter breit ist. Das
Fahrrad ist ein sportliches Mountainbike und benötigt allein durch die
Lenkerbreite und eine dicht an der Straße stehende Mauer mindestens
einen Meter Spurbreite. Der Lkw hat sich demnach mehr als einen Meter
auf der gegenüberliegenden Linksabbiegerspur befunden. Da beide zuvor
an der Kreuzung bei Rot hielten und der Lkw-Fahrer angibt, den Radfahrer
dort gesehen zu haben, spricht alles für einen bewussten und
riskanten Überholvorgang durch den Lkw.
Der beauftragte Sachverständige der DEKRA Neubrandenburg hat auch diese
Möglichkeit im Angebot. Seine Arbeit begann jedoch erst sechs Tage nach
dem tödlichen Unfall. Niemand hat zuvor den Unfallort ausreichend
begutachtet. Der der Stadt Templin gehörende Lkw wird erst später auf
einem Wirtschaftshof sichergestellt. Der alte Lkw L60 ist ein
DDR-Produkt, ohne Unterfahrschutz und mit nur einem rechten
Außenspiegel. Im Gegensatz zum vollständig verkehrssicheren Fahrrad des
Opfers zeigt der Lkw auf einem Versuchsstand keine Bremswirkung der
Hinterachse, was einem Bremskraftverlust von etwa einem Drittel
entspricht.
Für einen Prozess ungewöhnlich, darf der Sachverständige eine
Computer-Simulation des möglichen Unfallherganges im Gericht vorführen.
Anhand der Daten des Lkw-Fahrtenschreibers und der Fahrbahnabmessungen
werden drei verschiedene Simulationen vorgeführt. Unbekannt ist einzig
die Geschwindigkeit des Radfahrers. In zwei Fällen ist der Radfahrer am
Beginn der Mauer noch sichtbar, im dritten nicht. Man diskutiert
anschließend anhand der letzten Möglichkeit – die einen Freispruch für
den Lkw-Fahrer bedeuten würde. Wenn die Schuld des Angeklagten nicht
zweifelsfrei zu beweisen ist, ist dieser freizusprechen. Der Eindruck
beim Staatsanwalt und beim Richter sitzt tief. Doch der Sachverständige
hat in seiner Annahme drei Fehler gemacht: Eine damals noch vorhandene
vorgezogene Haltelinie für Radfahrer fehlte in der Berechnung, welche
diesem neben einem „Vorausgrün“ weitere Zeit und Sichtbarkeit gebracht
haben dürfte. Ebenfalls vergessen wurde, dass Lkw und Radfahrer
unmöglich etwa 15 Meter nebeneinander auf einer nur 2,80 Meter breiten
Spur gefahren sein können. Und eine letzte falsche Annahme bezog sich
auf die freie Sicht aus dem Seitenfenster, wonach sich der 1,83 Meter
große Fahrradfahrer kleiner als 1,25 Meter gemacht haben müsste.
Ein Ortstermin wird nicht für notwendig gehalten und für den Amtsrichter
ist der Fall klar: Freispruch für den Angeklagten! Der Radfahrer habe
grob fahrlässig gehandelt; auf dem Radweg wäre der Unfall sicherlich
nicht passiert. Völlig anders sieht dies ADFC-Rechtsanwalt Martin
Karnetzki und hat Berufung eingelegt. Im Prozess vertrat er die
Nebenklage der Witwe und ist sich sicher, dass sich der 45-jährige
Familienvater weder lebensmüde noch leichtsinnig verhalten hat.
BENNO KOCH"
--
CU Christoph Maercker.
Radfahren: Erneuerbare Energien statt Krieg um Öl.